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Abschrift aus der Schweizerischen Aerztezeitung, Band 63, Heft 19, S.1056, 12.5.82 Teil 1
Schweizerisches Tropeninstitut, Socinstrasse 57, CH-4051 Basel

Teil 1
Praktisches medizinisches Vorgehen bei Schlangenbissen

Erste Hilfe durch den Laien:
Beruhigung des Patienten, Anlegen einer Bandage (siehe Dok-Bandage), Schmerzbekämpfung, Transport ins nächste Spital, Bissstelle NICHT desinfizieren Eine akute Infektionsgefahr liegt i.d.R. nicht vor. Die Praxis zeigt, dass minimste Reste von Gift um die Bissstelle vorhanden sind. Diese Reste sind für den Vergiftungsverlauf unbedeutend. Diese Reste werden aber in einigen Ländern, in denen lebensgefährlichen Schlangen leben, für Tests zur Bestimmung der genauen Schlangenart verwendet. Darum sollte vor dem Eintreffen im Spital um die Bissstelle nichts manipuliert werden.


In Spitalverhältnissen
Anamnese:

Einheimische, ausländische Schlange? Name? Wissenschaftlich? Geographisches Herkommen? Zeitpunkt des Bisses? Allergien? Zucker? Frühere Bisse?

Status:
►Allgemein: Bewusstseinszustand, BD, Puls, Respiration.
►Lokalsymptome: Schwellung hämorrhagische Verfärbung und Blutungen im Bereich der Bissstelle.
►Allgemeinsymptome: Lidptose, Sprachstörung, Schluckstörung, Atemdepression, Epistaxis, Hämoptysis, Melaena, Hämaturie, Zahnfleischbluten.

Labor:
SR, HB, Leuko, Thrombo, Blutgruppe, Blutungs- und Gerinnungszeit, Quick, Fibrinogen, eventl. weitere Gerinnungsfaktoren und Haptoglobin, Urinstatus, Elektrolyte, EKG, 20 ml Nativblut im Kühlschrank asservieren

Beratung bei Schlangenbissen
Tox. Zentrum +41 44 251 51 51 oder Tropeninstitut +41 61 284 81 11
Nötige Angaben: Art, wissenschaftlicher Name, Herkunft der Schlange, Vergiftungssymptome lokaler und systemischer Art.

Grundsätze der Antivenintherapie
Nur bei systemischer Vergiftung (Lähmungen, Gerinnungsstörungen, Hämolysen). Genaue Anamnese früherer Serumbehandlungen, allergische Diathese; nur spezifisches Serum, i. v. Applikation, 1:10 verdünnt, Adrenalin in Griffnähe, Kinder brauchen ebensoviel Antivenin wie Erwachsene (50-150 ml).


Therapie:
Farblose (!) Desinfektion der Bissstelle nach evtl. Giftschnelltest. Anlegen einer (zentralen) Tropfinfusion NaCl 1000 ml. Auch wenn keine Vergiftungssymptome vorliegen, 12-24 Stunden beobachten (bei stark hämostasestörenden Giften bis 5 Tage). Eventl. Tetanus Rappel (nur wenn letzter Rappel lange Zeit zurück).
►Lokale Schwellung: Ruhigstellung (keine Bandage mehr, die Blutzirkulation darf nicht im geringsten behindert werden, z.B. durch eine zirkuläre Binde zur Fixation einer Schiene), antiphlogistische (=heute umstritten) symptomatische Therapie, Stichelung oder perkutane Inzision bei Störung der peripheren Zirkulation (wenn nötig, nur durch Arzt ! ).

Keine Kryotherapie.
►Nekrosen: Antibiotische Abschirmung, Nekroseexcision nach Demarkierung, Hauttransplantate.
►Neurotoxische Vergiftung: Intubation, künstliche Beatmung (möglichst keine Tracheotomie), i.v. Gabe von mono- oder polyvalentem Antivenin.
►Hämotoxische Vergiftung:
a) Bei leichten labormässigen Gerinnungsstörungen: Beobachtung des Patienten.
b) Bei schweren Gerinnungsstörungen, Spontanblutungen, Hämolysen: i.v. Antivenintherapie, Frischbluttransfusionen, FFP, Fibrinogen, Thrombozyten, evtl. Heparinisierung.
►Schock / Nierenversagen: Volumenersatz, Dialyse.
►Ueberempfindlichkeit gegen Antivenine: Fraktionierte Antiveningabe in aufsteigenden Dosen unter gleichzeitiger Adrenalin- Antihistamin-, und Kortikosteroidmedikation.

* Empfohlene Literatur: T. Junghanss et al. "Notfall- Handbuch Gifttiere" Thieme Verlag, 1996

Teil 2
Schlangenbiss und Schlangenbissvergiftung
E. Stahel, T.A. Freyvogel, Basel


Die beiden Begriffe Schlangenbiss und Schlangenbissvergiftung werden fälschlicherweise oft synonym verwendet. Zwar sind Schlangenbissvergiftungen stets eine Folge von Schlangenbissen, doch zieht nur ein Teil der Schlangenbisse Vergiftungen nach sich, auch wenn es sich um Unfälle mit potentiell gefährlichen Giftschlangen handelt.
Die Giftabgabe dient der Schlange zum Beuteerwerb. Da der Mensch nicht ins Beutemuster der Schlangen passt, beissen sie ihn nur in Abwehr und geben oft wenig oder gar kein Gift ab.

Nach der Literatur führen ein Drittel bis die Hälfte aller Unfälle mit Giftschlangen lediglich zu einer mechanischen Hautverletzung, allenfalls Bissmarken, welche allerdings häufig nicht sichtbar sind. Rund ein Viertel ziehen lokale Vergiftungssymptome (Oedeme, Suffusionen, Hautnekrosen) nach sich, und bei einem Viertel der Fälle werden labormässige oder klinisch manifeste Zeichen einer systemischen Vergiftung (Gerinnungsstörungen, Hämolysen, Lähmungen) beobachtet. Gesamthaft kommt es in weniger als 10 % aller Bisse zu schweren Vergiftungen. Bei adäquater Behandlung ist die Mortalität unter 1 %.

Der Wirkungseintritt der verschiedenen Schlangengifte erfolgt beim Menschen nicht unmittelbar. Bei schweren neurotoxischen Vergiftungen dauert es bis zum Einsetzen der Atemlähmung oft Stunden. Vergiftungen mit Gerinnungestörungen führen ohne Behandlung erst nach 2 bis 3 Tagen zu massiven inneren Blutungen. Die wenigen beschriebenen Todesfälle innerhalb Minuten dürften, ähnlich den häufigeren tödlichen Bienenstichen, anaphylaktischer Natur sein. Bei Menschen anderer Kulturkreise sind akut tödlich verlaufene Schlangenbisse auch psychischen Ursachen (extreme Angstzustände) zugeschrieben worden.

In den letzten 10 Jahren betraf nach Angaben des Toxikologischen Informationszentrums in Zürich rund die Hälfte der Unfälle mit Schlangen in der Schweiz einheimische Viperiden (Vipera berus und Vipera aspis), die andere Hälfte war auf ausländische Schlangen zurückzuführen. Die einheimischen Alpen- und Juravipern verursachen als lokale Vergiftungszeichen Schwellung, Suffusionen und, selten, eine nachfolgende kleine Hautnekrose. Leichte Gerinnungsstörungen sind manchmal labormässig erfassbar, führen hingegen nicht zu spontanen generalisierten Blutungen. Die 1 bis 2 Stunden nach dem Biss beobachteten Blutdruckabfälle sowie die akuten Diarrhöen sind Ausdruck eines autopharmakologischen Geschehens. Eine symptomatische Behandlung der Bisse einheimischer Viperiden ist in den allermeisten Fällen genügend.

Bisse durch ausländische Giftschlangen betreffen in der Schweiz fast ausschliesslich Schlangenhalter. Der Mehrzahl unter ihnen sind der Trivial- sowie der wissenschaftliche Name der Schlange sowie deren systematische Zugehörigkeit bekannt. In der Reihenfolge ihrer Häufigkeit stehen Crotaliden an erster Stelle, gefolgt von Elapiden und Viperiden. Die Crotaliden (Klapperschlangen, Lanzenottern, Bambusottern, Dreiecksköpfe) verursachen in erster Linie hämatologische Komplikationen; die Elapiden (Mamba, Kobra, Kraits u.a.m.) neurotoxische Vergiftungen; die Viperiden zytotoxische und vasculohäotoxische Vergiftungen. Damit lassen sich bei bekannter Schlangenart die möglichen Komplikationen voraussehen.

Zum praktischen Vorgehen sind die wichtigsten Punkte auf dem Merkblatt (Teil 1) des Schweizerischen Tropeninstituts ersichtlich. Nach Erhebung der Anamnese und Status und in Kenntnis der Laborresultate (Blutungszeit, Gerinnungszeit - Thrombozyten, Quick, Fibrinogen) lässt sich das therapeutische Vorgehen festlegen. Vier Diagnosen sind in Betracht zu ziehen:
1. Schlangenbiss ohne Zeichen einer Vergiftung
2. Schlangenbiss mit lokalen Vergiftungszeichen (Oedem, Suffusionen)
3. Schlangenbiss mit systemischen, labormässig erfassten Vergiftungszeichen (verminderte Gerinnungsparameter)
4. Schlangenbiss mit generalisierten, klinischen Vergiftungszeichen (Lähmungen, Magendarm-blutungen, Makrohämaturie, Hämoptoe, Hirnblutungen)

Therapie
Bei Bissen ohne Vergiftungssymptome (1) beschränkt sich die Therapie auf die lokale, farblose Desinfektion und eventuell den Tetanus Rappel.


Liegen LOKALE Vergiftungszeichen (2) vor, sollten KEINE Antivenine gegeben, sondern nur eine antiphlogistische (=heute umstritten),symptomatische Therapie (siehe Dok-Tips) durchgeführt werden.

Auch bei leichteren labormässigen Gerinnungsstörungen ohne spontane Blutungen ist die Antivenintherapie nicht nötig. Die Restitution der Gerinnungsfaktoren erfolgt in wenigen Tagen. Die spezifische Therapie mit Antiveninen ist für die bedrohlichen, potentiell tödlichen Verläufe vorbehalten. Dazu gehören die schweren labormässigen Gerinnungsstörungen (3) ohne Zeichen klinischer Blutungen sowie die Vergiftungen mit manifesten inneren Blutungen oder Lähmungssymptomen (4).

Bei der Antivenintherapie gilt es, folgende Punkte zu beachten:
1. Antivenine sind heterologe Seren. Die Therapie mit Antiveninen führt oft zu Sensibilisierung gegen Pferdeserum, und schon bei der erstmaligen Anwendung können anaphylaktische Reaktionen auftreten.

2. Antivenine sind artspezifisch. Monovalente Antivenine enthalten Antikörper gegen die Gifte einer einzigen Art, polyvalente Antivenine wirken gegen die Gifte mehrerer Schlangenarten einer geographischen Region. In einigen Ländern, in denen hochgefährliche Schlangen leben, sind Tests die nach dem ELISA-Prinzip funktionieren entwickelt worden, mit welchen man die bissverursachende Schlangenart innert kurzer Zeit feststellen kann. Dazu wird der Testtubus an der - unbehandelten - Bissstelle geimpft.
3. Antivenine beeinflussen Lokalsymptome nicht oder nur geringfügig, so dass der therapeutische Gewinn, bei Vorliegen alleiniger lokaler Vergiftungszeichen, in keinem Verhältnis zum Risiko eine Antiveninanwendung steht.

4. Antivenine sind in der Behandlung von Vergiftungsfällen mit lebensbedrohlichen Gerinnungsstörungen oder Lähmungen indiziert und erreichen bei intravenöser Anwendung die beste Wirkung. Antivenine werden in einer Verdünnung von 1:10 in physiologischeNaCl-Lösung gegeben. Lokale Injektionen um die Bissstelle oder i.m. Applikation sind weitgehend wirkungslos.
5. Intrakutane oder intrakonjunktivale Sensibilitätsproben mit verdünntem Antivenin sind wenig aussagekräftig, da sie oft widersprüchliche Resultate ergeben. Zudem können sie zu unnötiger Sensibilisierung gegen Pferdeserum führen im Fall, dass das Antivenin letztlich doch nicht gegeben wird. Die Verträglichkeit wird geprüft, indem nach den ersten Millilitern die Infusion des Antivenins für einige Minuten unterbrochen und der Patient auf anaphylaktische Reaktionen beobachtet wird. Treten keine Nebenwirkungen auf, wird die Restmenge innerhalb 30 Minuten infundiert.

6. Unverträglichkeitsreaktionen kann mit einmaliger oder wiederholten Injektionen von Adrenalin 1/2 mg s.c. oder i.v. begegnet werden. Bei schweren Reaktionen entspricht die Behandlung derjenigen des anaphylaktischen Schocks.
7. Die Initialdosis bei Antivenintherapien liegt bei 50 ml (5 Ampullen). Treten in der Folge erneut generalisierte Vergiftungszeichen auf, werden wieder 50 ml Antivenin infundiert. Selten werden Gesamtmengen über 150 ml benötigt. Die Wirkung der Antivenine beruht auf der Neutralisation der Schlangengifte. Damit ist offensichtlich, dass Kinder dieselbe Antiveninmenge wie Erwachsene brauchen.

Die Beschaffung einer genügenden Menge (50-100 ml) von Antivenin soll gleich bei der Ankündigung oder beim Eintreffen des Patienten organisiert werden, auch wenn in diesem Zeitpunkt noch keine Vergiftungszeichen vorliegen. Am Schweizerischen Tropeninstitut stehen alle wichtigen Schlangenantivenine zur Verfügung. Treten bei Unfällen mit Gifttieren Probleme bei der Antiveninbeschaffung auf, wende man sich direkt ans Schweizerische Tropeninstitut in Basel oder ans Toxikologische Informationszentrum in Zürich (siehe Teil 1). Beide Institutionen verfügen über die aktuellen Standortverzeichnisse aller in der Schweiz und in Europa vorhandenen Gifttierantivenine.

Eine weitere Arbeit zum Thema: K. Markwalder "Behandlung von Giftschlangenbissen" Schweiz. Rundschau Med. (PRAXIS) 71, Nr. 20, S.842-847, 1982

Anmerkung: Kursivschrift = Ergänzungen WSS